Kristallnacht
1935 hatte ich eine Lehre als Technischer Zeichner begonnen. Mama hatte es so gewollt. Es war eine Zeit, an die ich nur ungern denke, weniger darum, weil ich im dritten Lehrjahr hinausgeworfen wurde, sondern weil ich mich dabei an zwei äußerst unangenehme Arbeitskollegen erinnere. Der eine war ein Asthmatiker und Kettenraucher, chronisch verschleimt, der ständig mit gräßlichem Geräusch ins Taschentuch spuckte und nach jeder Zigarette mit einem quietschenden Gummiball irgendwelches Zeug inhalierte, so daß unser Konstruktionsbüro vom Morgen bis zum Abend nach Kampfer und Eukalyptus stank. Der andere war ein schwuler SS-Mann. Er stellte sich häufig, wenn ich am Zeichenbrett stand, schräg hinter mich, tat so, als wolle er mir etwas erklären, und drückte mit seinem geschwellten Geschlechtsteil gegen meine Hüfte. So machte er es auch bei den zwei anderen Lehrlingen. Er war vorsichtig genug, mir nicht zu folgen, wenn ich schnell einen Schritt seitwärts tat. Ich hatte nie eine Vorliebe für Männer, obwohl mich die Berührung sehr erregte, denn bis dahin hatte Mama mit Erfolg verhindert, daß ich Liebschaften mit Mädchen anknüpfte. Darum war ich für homoerotische Angebote eher empfänglich als andere Jugendliche meines Alters. Gefährlicher wurde es, wenn der SS-Mann mir auf die Toilette folgte und mich, während wir die letzten Tropfen abschüttelten, zur gegenseitigen Pimmelbesichtigung einlud. Feige wie ich bin, hätte ich das möglicherweise getan, wie auch die beiden andern Lehrlinge es getan haben, doch aus Furcht, meine kupierte Vorhaut könne ihm auffallen, weigerte ich mich entschieden.
Eines Tages heftete ihm einer der Lehrlinge in der Mittagspause eine Zeichnung ans Reißbrett, auf der ein Totenkopf, das SS-Symbol, zu erkennen war; aber es war wiederum nicht das SS-Symbol, sondern das Warnzeichen »Vorsicht Gift!«, nur daß anstelle der Knochen zwei stramme Schwänze sich kreuzten. Er erschrak sehr und zerriß das Blatt sofort. Von dem Tag an hörten seine Annäherungsversuche auf.
Der SS-Mann hatte Glück, nie denunziert zu werden. Mitten im Krieg traf ich ihn in Uniform und mit mehreren Tapferkeitsauszeichnungen dekoriert wieder.
Ein verwachsener Materialverwalter war schuld daran, daß ich ein Jahr vor Beendigung der Lehre entlassen wurde. Wir Lehrlinge spielten dem Materialverwalter manchen Streich, und als sich ihm ein einziges Mal die Möglichkeit zur Rache bot, schlug er zu. Einmal erwischte er mich während der Arbeitszeit im italienischen Eissalon in der Frankenallee, meldete es der Geschäftsleitung und behauptete obendrein, ich hätte ihm einige Bleistifte gestohlen, was aber eine böswillige Erfindung war.
Die Entlassung löste eine familiäre Katastrophe aus, denn mit ihr wurde das Prinzip der Unauffälligkeit, das Fundament unserer Tarnung, durchbrochen. Dem Tag, da Mama wegen der Entlassung in die Luftheizungswerke, meine Lehrfirma, gerufen wurde, folgte ein fürchterlicher Abend mit Vorwürfen, Schreien und Weinen, Mamas Herzattacke und Papas Verzweiflungsgebärden mit ausgebreiteten Armen.
Als wir alle vor Erschöpfung, ich zusätzlich vor Scham, stiller geworden waren, nannte jemand den Namen Fanny Ritter. Sie war eine Freundin von Mama, ebenfalls Jüdin und gut bekannt mit dem angesehenen Frankfurter Industriellen Remy Eyssen, Inhaber der altrenommierten Eisen- und Stahlbaufirma Fries Sohn. Wenn sie ihn dazu überreden könnte, so überlegten wir, daß seine Firma in den unterbrochenen Lehrvertrag einträte, wäre ich gerettet.
Fanny Ritter ging, ohne lange zu überlegen, zu Remy Eyssen und erzählte ihm, was geschehen war und wer ich in Wirklichkeit bin, fügte jedoch die fromme Lüge hinzu, ich wolle nach Abschluß der Lehre nach Palästina auswandern.
Das Wunder geschah: Remy Eyssen erfüllte ihre Bitte und stellte mich, einen Juden, ein - und das im Jahr 1938! Mein Arbeitsplatz war aber nicht im Hauptwerk im Riederwald, sondern in dem kleineren Werk Süd in Sachsenhausen. Vorher rief mich Remy Eyssen noch zu sich ins Chefbüro, um mir zu sagen, ihn interessiere nicht, was geschehen sei, ich habe mich ordentlich zu betragen und nach Beendigung meiner Lehrzeit die Firma wieder zu verlassen. Ich versprach es ihm und war auch redlich bemüht, während der restlichen zwölf Monate meiner Lehre unauffällig zu bleiben. Aber dann kam der November 1938 und die Kristallnacht.
»Oj wej, wird das Zores geben!« sagte Mama, als die Nachricht über den Rundfunk kam, ein gewisser Grienspan habe in Paris den deutschen Gesandtschaftssekretär vom Rath erschossen. Der Getötete stammte aus einer alten Frankfurter Familie. Mama nahm die Hände an die Backen und bekam ganz große ängstliche Augen. »Auf so etwas haben die ja nur gewartet.« Nach einer Weile fuhr sie, jedes Wort betonend, fort: »Alles, was wir bisher von den Hitlers erlebt haben, wird ein Dreck sein gegen das, was jetzt kommt.«
Mama hatte wie immer recht. Als ich am andern Morgen auf dem Weg zu meiner Arbeitsstelle in Sachsenhausen war, holte mich auf dem Eisernen Steg eine junge Sekretärin ein. »Haben Sie schon gehört, die Synagoge am Börneplatz brennt, und im Sandweg schlagen sie die Schaufenster von jüdischen Geschäften ein und werfen alles auf die Straße.«
Wir kamen ins Büro. Dort war bereits eine große Aufregung, alle redeten durcheinander, jeder wußte etwas anderes. Nicht nur die Neue Synagoge am Börneplatz brenne, sondern alle Synagogen ständen in Flammen, im gesamten Ostend und auch im Nordend würden Juden aus ihren Wohnungen getrieben und alle jüdischen Geschäfte demoliert.
Ich wartete darauf, daß der Hitlerjunge käme, der im Konstruktionsbüro vor mir am Zeichenbrett stand. Er war im letzten Lehrjahr und zwei Jahre älter als ich. Häufig kam er in seiner HJ-Uniform zur Arbeit. Als Zeichen seiner Scharführerwürde hing ihm eine geflochtene Schnur von der Achselklappe in einem Bogen bis zum mittleren Hemdenknopf. Er wußte immer zuerst Bescheid, wenn wieder einmal Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung unternommen wurden.
So erregt ich auch war, ich durfte mich nicht verdächtig machen, nicht mehr Neugierde zeigen als die andern. Aber ich hielt es nicht mehr aus, zog meine Jacke an und rannte los zum Börneplatz. Von weitem schon sah ich in Richtung der Synagoge eine große Rauchwolke am Himmel.
Und dann stand ich in der Menschenmenge auf dem Platz und sah die Flammen, die aus dem großen Kuppelbau des Gotteshauses schlugen. Etwa hundert Meter von der brennenden Synagoge entfernt bildeten SA-Leute und Hilfspolizisten einen Kordon, so daß niemand näher an die Brandstelle herankonnte. Ganz vorne, noch vor der Absperrung, stand eine Gruppe Hitlerjungen, feixte und lachte und machte eine Gaudi aus dem schrecklichen Geschehen.
Die Menschen hinter der Absperrung waren eher betreten, ich hörte kein Wort der Zustimmung. Neben mir erzählte eine Frau, sie habe gesehen, wie man am Zoologischen Garten Juden mit Lastwagen abtransportiert habe. Ein Mann sagte, er komme gerade von der Friedberger Anlage, die dortige Synagoge brenne ebenfalls und auch die Alte Synagoge an der Allerheiligenstraße.
Neben dem wie eine Pechfackel lodernden Rundbau standen zwei Feuerwehrwagen, einer mit einer großen Leiter, die aber nicht ausgefahren war, und ein Gerätewagen. Mit Löschschläuchen in den Händen standen einige Feuerwehrleute herum, aber sie bekämpften nicht den Brand, sondern löschten nur die auf die Straße stürzenden Balken. Sie hatten offensichtlich Anweisung, die Synagoge ausbrennen zu lassen und nur das Übergreifen des Feuers auf die Häuser der Nachbarschaft zu verhindern.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da stand und in die Flammen starrte. Ein Gefühl überwältigte mich, wie ich es bisher nicht gekannt hatte: auch ich war einer von denen, die da gequält und geschunden wurden. Noch nie war es mir so deutlich ins Bewußtsein gedrungen, daß ich zu ihnen gehörte. Es waren meine Brüder und Schwestern, denen man die Scheiben zertrümmerte, die Wohnungen demolierte, die Geschäfte zerschlug, die Gotteshäuser zerstörte, die Thorarollen schändete und denen man Schlimmes an Leib und Leben antat. Ihr Schicksal war mein Schicksal, auch ich war einer aus dem auserwählten Volk, gewiß keiner der tapfersten und edelsten, keiner der bekenntnisfreudigsten - aber aus der Tatsache selbst konnte ich mich nicht herauslügen. Ich wollte es auch nicht in diesem Augenblick.
Ich empfand keinen Haß auf die neugierig glotzende Menschenmenge um mich herum, obwohl ich wußte, daß bei den meisten von ihnen die brennende Synagoge keine Erschütterung auslöste. Es war für sie ein Schauspiel, bei dem man für kurze Zeit eine Gänsehaut bekam. Ich war unendlich traurig und dachte, jetzt müßte wer laut das Sch'ma Jisrael (: »Höre, Israel!«, die ersten Worte des Glaubensbekenntnisses der Juden vom einzigen Gott.) beten als letztes Bekenntnis vor dem Untergang. Und plötzlich hörte ich ganz deutlich die Stimme Papas. Er sang das alte, bittere, jiddisch-revolutionäre Lied, das er hin und wieder zu Hause sang, allein oder auch zusammen mit Mama, und das ich bis auf den heutigen Tag nicht mehr singen hörte, es scheint, daß es verschollen ist:
Hulet, hulet, bejse Windn
jetz is aier Zait,
lang wet doieren der Winter,
Summer is noch wait.
Raisst die Loden fun die Fenster,
Schaiben brecht arois,
brennt a Lichtl ergets Finster,
lescht mit Zorn es ois.
Jogt de Vejgl fun die Weider,
wait vertraibt sej fort,
die wos kennen nit mehr fliehen,
toit sain oif dem Ort.
(Stürmet, stürmet, böse Winde,
jetzt ist eure Zeit,
lang wird dieser Winter dauern,
Sommer ist noch weit.
Reißt die Läden von den Fenstern,
Scheiben brecht heraus,
brennt ein Licht noch wo im Dunkeln,
löscht mit Zorn es aus.
Jagt die Vögel aus den Wäldern,
weit vertreibt sie fort,
denn die nicht mehr fliehen können,
bleiben tot am Ort.)
Ich sah nichts als die Flammen und den Rauch, obwohl viele hundert neugierige Menschen um mich herumstanden, und in meinen Ohren klang, als stünde er dicht neben mir, Papas leise, traurige Stimme: »Hulet, hulet, bejse Windn.« Ich hätte mich nur umdrehen müssen, um ihn zu sehen, so nahe war er mir. Und in meinem Kopf zitterte der Refrain mit: »Lang wet doieren der Winter, Summer is noch wait.« Ich weinte, die Tränen rannen mir die Backen hinunter, und es war mir gleichgültig, ob mich jemand beobachtete.
Langsam ging ich zurück ins Büro. Niemand fragte mich, wo ich gewesen war. Eine halbe Stunde später kam der Hitlerjunge. Sein Gesicht und seine Hände waren verdreckt.
»Was gibt's Neues?« wurde er gefragt.
»Was es Neues gibt? Ihr wißt hoffentlich schon alles«, antwortete er.
Aber dann erzählte er doch von seinem Einsatz. Bereits am Abend hatte ihn sein Fähnleinführer vorgewarnt, daß in der Nacht etwas fällig sei, er solle sich für einen Einsatz bereit halten. Um drei Uhr in der Frühe holte man ihn aus dem Bett, und eine halbe Stunde später war er an dem Treffpunkt im Nordend. Die Hitlerjungen wurden hier in mehrere Gruppen eingeteilt, dann zogen sie in Richtung Innenstadt los. In den ihnen zugewiesenen Straßenzügen hatten sie systematisch die Schaufenster der jüdischen Geschäfte eingeschlagen und die Einrichtungen demoliert; danach drangen sie in Wohnungen von Juden ein, trieben sie auf die Straße, zerschlugen auch hier die Fensterscheiben und warfen anschließend das Mobiliar durch die Fenster auf die Straße.
Die Straßen waren übersät mit Glasscherben, was dem Pogrom dann den Namen »Kristallnacht« gegeben hat. Draußen wurden die aus den Wohnungen hinausgejagten Menschen von der SA in Empfang genommen und abgeführt.
Der Hitlerjunge schloß seinen Bericht mit der Bemerkung: »Einem haben wir den Bart und die Pajes (: Schläfenlocken bei frommen Juden) gestutzt. Der sah hinterher wie eine Runkelrübe aus. Das war vielleicht komisch. Und geglotzt hat er wie ein Frosch.«
Ein älterer Kollege fragte: »Prügel haben die Juden auch bekommen?«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Scharführer.
»Gar nichts. Man hört so allerhand.«
»Sie haben wohl noch Mitleid mit denen?«
Der Kollege schwieg. Beleidigt und sozusagen mißverstanden zog sich der Hitlerjunge zurück. Später stellte er sich zu mir ans Zeichenbrett, um noch mehr von seinen Heldentaten zu berichten. Sein HJ-Trupp war zur Synagoge in der Friedberger Anlage abkommandiert worden. Gegenüber der Synagoge am Anlagenring stand bereits ein Auto, das mehrere Benzinkanister geladen hatte. Der Brandanschlag war also gründlich vorbereitet. Durch das Hauptportal und die zertrümmerten Fenster gossen sie das Benzin in das Gebäude und zündeten es mit Hilfe getränkter Putzwollappen an. Noch zweimal mußten sie Benzin nachschütten und von neuem anzünden, bis die Synagoge endlich in Flammen stand.
Ich saß an meinem Zeichentisch und versuchte, gleichgültig auszusehen. Doch meinem Arbeitskollegen mußte etwas an mir aufgefallen sein. Er unterbrach seine Erzählung und fragte: »Interessiert dich das nicht?«
»Ehrlich gesagt: nein.«
»Magst du die Juden?«
Was sollte ich ihm darauf antworten? Zwar fiel mir das Lügen nicht schwer, ich hatte es, solange ich mich erinnern kann, geübt. Aber jetzt konnte ich nicht anders. Ich sagte: »Ob ich die Juden mag oder nicht, ist schließlich egal. Du kannst dir deine Geschichten sparen. Was heute nacht mit den Juden geschehen ist, das halte ich für ein Unrecht, das ist einfach unchristlich.«
Der HJ-Führer war auf diese Antwort nicht gefaßt. Er starrte mich eine Zeitlang an, dann zischte er: »Du bist mir ja ein feiner Volksgenosse!«
»Laß mich in Ruhe.« Ich drehte mich zu meinem Zeichenbrett um.
Doch er ließ mich nicht in Ruhe. »Mach nur, ich bin neugierig, was du sonst noch auf Lager hast.«
Jetzt merkte ich, daß ich zu weit gegangen war.
»Daß du Bescheid weißt«, sagte er förmlich, »das werde ich weitermelden, dazu bin ich verpflichtet.«
Am Nachmittag rief mich der Chef, Herr Bernhardt, zu sich ins Büro. Bei ihm saß der HJ-Führer.
»Stimmt es, Herr Senger, daß Sie über die heutigen Ereignisse diese Äußerungen getan haben?« fragte mich der Chef.
»Ich habe nur gesagt -«
Heftig unterbrach er mich: »Was Sie >nur< gesagt haben, weiß ich bereits. Ich dulde in meinem Betrieb keinerlei politische Stänkereien, die gegen den Staat oder die Partei gerichtet sind. Merken Sie sich das. Hiermit erteile ich Ihnen einen Verweis! Haben Sie noch etwas zu sagen? Nein? Dann können Sie gehen.«
Es hätte bei Gott schlimmer kommen können. Ich hoffte nur, der Hitlerjunge würde es dabei belassen, mich beim Chef angeschwärzt zu haben. Es beruhigte mich etwas, daß er auch am Nachmittag im Büro blieb. So konnte er, wenigstens an diesem Tag, keine Parteistelle informieren. Eine halbe Stunde später rief mich Herr Bernhardt wieder zu sich. Diesmal war er allein. »Setzen Sie sich.« Seine Stimme klang anders als vorher, freundlicher. »Ich hoffe, Sie haben kapiert, was für eine große Eselei Sie gemacht haben. Ist Ihnen denn klar, in welcher Zeit wir leben? Da kann man doch nicht einfach so daherreden! Ich habe mich entschlossen, Sie zu versetzen. Sind Sie damit einverstanden, daß ich Sie ins Hauptwerk in den Riederwald schicke?«
»Wenn es sein muß.« Eigentlich war es mir recht so, denn es war schon eine starke Belastung, den HJ-Scharführer den ganzen Tag am Zeichenbrett vor dem meinen stehen zu haben und zu wissen, daß er jede Gelegenheit wahrnehmen würde, mich erneut zu denunzieren, das nächste Mal vielleicht bei der Partei. Und dann war ich wirklich dran.
»Ihr Arbeitskollege wird keine Ruhe geben«, fuhr Herr Bernhardt fort. »Ich halte es für das Beste, wenn Sie in den Riederwald gehen.« Er stand auf, was bedeutete, daß die Unterredung beendet war. Und da sagte er noch einen Satz, den ich von ihm nicht erwartet hätte, denn er gab sich immer sehr verbunden mit dem Hitlerstaat: »Zu dem, was heute in Frankfurt passiert ist, kann man seine eigene Meinung haben, aber die behält man für sich. Das war's, was ich Ihnen sagen wollte. Gehen Sie jetzt an Ihre Arbeit.«
Herr Bernhardt hat während der ganzen Hitlerzeit immer »seine Pflicht getan«, war ein verläßlicher Werksführer und hat bis zum bitteren Ende ausgehalten. Der HJ-Führer ging als Freiwilliger in den Krieg und fiel 1943 im Kessel von Stalingrad.
Der Schreckenstag war noch nicht zu Ende. Am späten Abend kam Erika Hirschmann, die Schwester des Arztes Sely Hirschmann, die in der Israelitischen Gemeinde (Bis November 1938 gab es in Frankfurt die »Israelitische Religionsgemeinschaft« und die außerkirchliche »Israelitische Gemeinde«. Auf Anordnung der Gestapo wurden dann beide zur »Jüdischen Gemeinde« zusammengelegt. Heute gibt es ebenfalls nur noch die »Jüdische Gemeinde«.) als Sekretärin arbeitete, mit einer schlimmen Nachricht zu uns in die Kaiserhofstraße. Das Haus der Jüdischen Wohlfahrtspflege in der Königswarterstraße war von SA-Leuten besetzt worden. Sie hatten sämtliche Räume durchwühlt, Vorstand und Geschäftsführung verhaftet und unter anderem eine Kartei mit den Namen aller gegenwärtig und ehemals betreuten Personen mitgenommen. Wer diese Kartei überprüfte, mußte auf unseren Namen stoßen. Am gleichen Tag waren auch die gesamten Unterlagen der Israelitischen Gemeinde in der Fahrgasse einschließlich der Mitgliederkartei beschlagnahmt worden. Dort war unser Name ebenfalls zu finden, auch wenn unser Austritt aus der Gemeinde schon Jahre zurücklag.
Als wir später im Familienkreis überdachten, was diese Nachricht für uns bedeutete, waren wir uns darüber einig, daß jetzt unser Versteckspiel ein Ende hatte. Wir befürchteten nur, Polizeimeister Kaspar würde Schwierigkeiten bekommen, wenn man die Einwohnerkartei im Polizeirevier Hochstraße überprüfte und feststellte, daß auf unserer Karteikarte die Religionszugehörigkeit verändert worden war.
Daß wir einmal am Ende dieser Gasse ankommen mußten, war uns längst klar. Aber die Ungewißheit darüber, wann das sein würde, war zu einer kaum mehr erträglichen Belastung geworden. Und so warteten wir ruhig und fast gelassen darauf, daß man uns holen würde, warteten zwei, drei, vier Tage. Mama bekam wieder ihre Herzattacken und ich meine Magenkrämpfe. Wir warteten Wochen und Monate. Aber nichts geschah.